Am 08.10.2020 um 8:03 Uhr ist das Herzstück der Solaranlage im Flüchtlingscamp Mam Rashan im Nordirak offiziell ans Netz gegangen. Dank des neuen 532 kWh großen Lithium-Ionen-Akkus kann das neu aufgebaute solare Inselstromnetz die 7.833 Binnenflüchtlinge des Camps endlich zuverlässig mit sauberem Strom versorgen.

Das Camp liegt in der autonomen Region Kurdistan, etwa 75 km von der Stadt Mossul entfernt. In der ersten Jahreshälfte 2014 brachten die Milizen des Islamisches Staates große Teile dieser Region unter ihre Kontrolle und verbreiteten dort Terror und Gewalt. Selbst wenn ihre ursprüngliche Heimat in der Zwischenzeit vom irakischen Militär zurückerobert wurde, können viele Menschen nicht wieder nach Hause zurück – zu immens ist die Zerstörung, zu groß die Armut.

 

Das solare Inselstromnetz versorgt nun die 7.833 Eiwohner:innen des Flüchltingcamps Mam Rashan.

Bisher versorgte das öffentliche Netz das Flüchtlingscamp mit Strom, allerdings meistens nur nachts. Tagsüber hatten die Einwohner im Durchschnitt nur circa vier Stunden pro Tag Zugang zu Strom. Dabei sind Temperaturen von bis zu 48°C keine Seltenheit mehr in der Region. Doch ohne Strom funktionieren weder Kühlschränke, Ventilatoren, noch Licht.

Deshalb startete atmosfair zusammen mit dem Land Baden-Württemberg aufgrund deren Partnerschaft mit der Region über die Stiftung Entwicklungs-Zusammenarbeit Baden-Württemberg (SEZ) im Jahr 2017 ein einzigartiges Projekt in dem Flüchtlingscamp Mam Rashan: den Bau und Betrieb eines großen solaren Inselstromnetzes zur Versorgung der 1.900 Wohneinheiten. Dank der Inbetriebnahme des Lithium-Ionen-Akkus des deutschen Lieferanten autarsys, kann die Solaranlage den Einwohnern nun fast durchgängig sauberen Strom zur Verfügung stellen. Der Akku ist notwendig um das Ungleichgewicht zwischen der Stromproduktion der 980 kW Solaranlage und dem lokalen Stromverbrauch abzufedern. Ohne ihn wäre der Betrieb des solaren Inselstromnetzes unmöglich. Die Solaranlage wurde noch kurz vor dem COVID bedingten Lockdown von 380 auf 980 kW erweitert. Das gesamte System spart damit etwa 1.200 Tonnen CO2 jährlich ein, die sonst durch die Verbrennung von fossilen Brennstoffen in Dieselgeneratoren entstanden wären.

 

Die privat betriebenen Dieselgeneratoren können manche Flüchtlinge mit Strom versorgen – aber zu sehr hohen Kosten sowohl für die Umwelt, als auch fürs Portemonnaie.

Im Jahr 2018 installierte atmosfair – gefördert durch Mittel des Landes Baden-Württemberg über die SEZ – eine 360 kW Solaranlage und eine 120 kWh Lithium-Ionen-Batterie. Es wurde jedoch schnell klar, dass diese Anlage den gesamten Strombedarf der über 7.000 Einwohner nicht vollständig decken kann. Außerdem erkannten die Ingenieure dabei, dass nicht nur die Stromerzeugung, sondern besonders die Stromverteilung ein großes Problem darstellt.

Dank einer weiteren Förderung des Landes Baden-Württemberg über die SEZ hat atmosfair seit letztem Jahr die Kapazität der Anlage auf fast 1 MW erweitert, einen neuen Batteriecontainer anschaffen können sowie ein komplett neues Niederspannungsnetz aufgebaut. Dabei haben die lokalen Techniker über 11.000 Meter neue Kabel und Leitungen verlegt, sowie 1.980 Unterverteilungen ausgetauscht um einen sicheren automatischen Wechsel zwischen dem nationalen Stromnetz und dem solaren Inselstromnetz zu gewährleisten.

Dank der Kompensationsmittel für Flugreisen von Bedienstete des Landes Baden-Württemberg über das Umweltministerium, konnte der neu geplante Batteriecontainer um weitere 88 kWh erweitert werden. Somit beträgt die Nennkapazität des neuen Batteriespeichers 444 kWh.

 

1.980 alte Unterverteilungen (links) mussten durch neue (rechts) ausgetauscht werden.

Aufgrund der COVID-Krise und eines strengen Lockdowns in der autonomen Region Kurdistan war es in diesem Jahr äußerst kompliziert, die Arbeiten zu koordinieren und abzuschließen. Ende August diesen Jahres war es jedoch endlich soweit: der Spediteur hob den neuen, 20 Tonnen schweren Batteriecontainer in Berlin auf seinen LKW und brachte ihn über Straße und Wasser nach Mam Rashan. Im September konnten dann die von atmosfair beauftragten Ingenieure Jörgen Klammer und Erich Klammer nach Erbil fliegen. Dort halfen sie dem lokalen Elektroingenieur Nawar Aaena bei der Inbetriebnahme der Anlage. Aktuell bleiben nur noch kleine Restarbeiten am neuen Niederspannungsnetz offen und Ende des Jahres dürfte das Projekt in Mam Rashan abgeschlossen sein.

 

Ein lokaler Techniker beim Anschließen der Solarmodule der 1 MW Photovoltaikanlage.

In einem Umkreis von circa 100 km um Mam Rashan liegen aber noch viele weitere Flüchtlingscamps mit Hunderttausenden von Flüchtlingen, die weiterhin keinen Zugang zu sauberem, zuverlässigem und günstigem Strom haben. Viele Städte liegen dort wegen der brutalen Kämpfe der letzten Jahre in Schutt und Asche. Für einen Wiederaufbau ist der Zugang zu Strom in der Region jedoch eine Grundvoraussetzung.

Viele weitere lokale und internationale Hilfsorganisationen sind durch die Solaranlage in Mam Rashan auf das hohe Potential der Nutzung von Solarenergie vor Ort aufmerksam geworden. Dank aller Menschen, die an diesem Projekt tatkräftig mitgewirkt haben, ist nun deutlich geworden, dass der Wechsel zu sauberen Energien auch in dieser sonnenreichen Region möglich und vielversprechend ist. Konkret stehen atmosfair und die SEZ aktuell bereits mit dem Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) im Gespräch: sie möchten auf das in Mam Rashan gesammelte Know-How aufbauen, um das nahegelegene Flüchtlingscamp in Domiz, in dem über 30.000 Flüchtlinge leben, ebenfalls in naher Zukunft mit Solarstrom zu versorgen.

Ein großer Dank geht an unseren Spender*innen, an das Land Baden-Württemberg und die Stiftung Entwicklungs-Zusammenarbeit Baden-Württemberg (SEZ) für ihre finanzielle Unterstützung sowie an die beteiligten Ingenieuren Jörgen Klammer, Erich Bosch und Nawar Aanea sowie an unserer Projektmanagerin Nele Erdmann!

 

atmosfair-Mitarbeiterin Nele Erdmann mit Ingenieur Jörgen Klammer und dem lokalen Bau-Team im Jahr 2018.

 

 

Delegationsbesuch im April 2019 von Staatsministerin Schopper (links) mit Ministerin Bauer (rechts) und SEZ-Vorstand Philipp Keil (Mitte) vor der neuen Solaranlage in Mam Rashan.

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